wissenschaftler streiten weiter darüber, ob scham angeboren, anerzogen oder ein mix aus beidem ist. kann man sich an bestimmte erlebnisse und anblicke gewöhnen oder werden sie einen immer wieder in scham versetzen und unangenehm sein? schaut man sich die entwicklung der nachtclubs und die pornografisierung der gesellschaft an, dann ist eine veränderung denkbar. die welt könnte freizügiger werden, auch wenn in vielen erotisierungen schon wieder eine seltsame verklemmtheit verankert ist.
was hat dies nun mit biografischem schreiben zu tun? ganz einfach: jeder schreibende steht irgendwann vor der frage, wie viel seiner intimen erlebnisse und erfahrungen er preisgeben möchte. so lang die lebensgeschichte nur für einen selber notiert wird, so lang kann sich die scham im hintergrund halten. man notiert das, was man denkt. doch selbst dann, ähnlich wie beim tagebuch schreiben, überlegt man, ob nicht später einmal jemand das geschriebene in die hände bekommt, man dies nicht mehr kontrollieren kann, und die eigene person nackt vor den leserInnen steht.
darum notieren die meisten menschen keine details ihrer sexuellen begegnungen, keine überlegungen zu ihren fantasien und wenige unzensierte gedanken zu anderen menschen. das steht im widerspruch zu den dating-börsen im internet, die jegliches detail offenlegen, das den eigenen sexuellen interessen entspricht. scham kommt anscheinend immer dann ins spiel, wenn tiefe gefühle ins spiel kommen. denn wieso sollte ich in meinem tagebuch dinge notieren, die mich nicht berühren. aber bei einer dating-börse geht es um angebot und nachfrage und nicht unbedingt um aktuelle gefühlslagen gegenüber einzelnen personen.
noch schwieriger wird die frage der scham, wenn man sich entscheidet mit der eigenen lebensgeschichte an die öffentlichkeit zu gehen. wie gut sollen einen die anderen menschen kennenlernen? viele biografien bilden nur die fassade der eigenen bedürfnisse ab, aber nicht die bedürfnisse selber. es bleibt eine persönliche entscheidung, wie weit der seelenstriptease gehen soll. manchmal genügen andeutungen, um ein gute bild der situation zu geben. manchmal darf es auch ein bisschen mehr sein, und doch wird die eigentliche intimität nicht preisgegeben.
von einem anderen blickwinkel aus stellt sich eine weitere frage: möchte ich überhaupt wissen, was andere menschen in ihren intimsten situationen machen? da gibt es keine eindeutige antwort. da gibt es einzig die schwelle zum fremdschämen, und die ist auch bei jedem menschen verschieden hoch. wenn ich wirklich mein leben abbilden möchte, kann es schon erstaunen, dass sexualität, körpergefühl und intime fantasien verdeckt bleiben. denn auf der anderen seite bestimmen diese aspekte einen großen teil der eigenen lebenswelt. arbeit und engagement sind nur ein teil unseres lebens.
zumindest lässt unsere gesellschaft inzwischen mehr „nackte wahrheit“ zu, als vor ein paar jahrzehnten. und jetzt können nur alle schreibenden für sich nachspüren, wie weit sie gehen möchten. doch wenn sie weit gehen möchten, dann sollten sie sich nicht von anderen bremsen lassen. nur so lang nicht, so lang anderen nicht geschadet wird. denn auch die, mit denen man intimitäten austauscht, haben ein recht auf scham und privatheit.