es klingt ein wenig absurd, kommt aber häufiger beim schreiben von wissenschaftlichen arbeiten vor: nachdem man sich über monate oder jahre mit einem thema beschäftigt hatte und das schreiben oft schwierig und mühsam war, fällt es plötzlich schwer, den text loszulassen, das schreibprojekt abzuschließen. es fällt einem immer noch etwas ein, das in die arbeit eingeflochten werden sollte, etwas, das noch nachgeschlagen werden, etwas, das man auch noch berücksichtigen könnte und das layout stimmt auch noch nicht.
für diese schwierigkeit, sich von seinem eigenen wissenschaftlichen text zu trennen, kann es sehr verschiedene gründe geben. am häufigsten ist es wahrscheinlich der versuch, perfekt sein zu wollen. perfektionismus sorgt dafür, dass alles, was man produziert, eigentlich noch besser sein könnte. perfektionismus ist unendlich erweiterbar, denn alles kann noch besser werden. auch nach dreissig jahren arbeit an einem buch oder schriftlichen arbeit, kann man noch etwas verbessern. hier ist es hilfreich, auch wenn es sehr schwer fällt, irgendwann einen schlussstrich zu ziehen. es ist notwendig, in der eigenen vorstellung den mut zur lücke auszuhalten. mantra-artig sollte man sich sagen, dass man nie die ganze welt erfassen kann.
der zweite grund einer trennungsblockade könnte die angst davor sein, was denn nun als nächstes kommt. man war von der aufgabe für den wissenschaftlichen text so besetzt, dass plötzlich eine große leere droht, wenn alles abgeschlossen ist. was dann? das gedankengebäude noch befeuern könnten die teils schlechten beruflichen aussichten für akademikerInnen sein. da hat man unter großen anstrengungen eine abschlussarbeit verfasst, sein studium beendet, und dann weiß man nicht, wo sich überhaupt beschäftigungen auftun. da erscheint das verharren beim abschließen des wissenschaftlichen textes als eine gute lösung. hier ist es schwer, alternativen aufzuzeigen, da man nicht einfach stellen schaffen kann. manchmal bietet sich die wissenschaftliche karriere als alternative an, über stiftungen und stipendien zu promovieren und zu habilitieren.
als dritter grund kommt die schwierigkeit, loslassen zu können ins spiel. der eigene wissenschaftliche text kommt einem beinahe wie ein kind oder ein anderes lebewesen vor, dass einen tagaus, tagein begleitet hat. dies soll man nun fremden menschen zur bewertung in die hand geben? was werden die daraus machen. ist man schon bereit, das produkt herzugeben. diese begründung hat weniger mit perfektionismus oder zukunftsangst zu tun, es hat mit einer sehr starken identifikation zu tun. da erscheint plötzlich jegliche bewertung und beurteilung unangemessen. an diesem punkt kann man zumindest alternativen suchen, die auch eine große bedeutung für das eigene leben haben. ein theoretisches produkt kann durch positive erfahrungen im sozialen austausch mit anderen menschen ersetzt werden.
es gibt sicherlich noch viele gründe, weshalb das loslassen eines wissenschaftlichen textes oder überhaupt eines textes schwerfallen kann. generell muss nach einer intensiven arbeitsphase wieder gelernt werden, alternativen zu leben. das ist manchmal wie ein sprung ins kalte wasser.