Tagesarchiv: 8. April 2012

kreatives schreiben und störung

kreatives schreiben ist ohne störungen nicht vorstellbar. im kreativen schreiben steckt die störung als fester bestandteil. denn man verlässt die vorgezeichneten, vernünftigen und strengen bahnen des denkens. man bringt den mut oder die verzweiflung auf, etwas neues zu kombinieren, verbindungen zwischen bestandteilen oder gedanken herzustellen, die ungewöhnlich sind, die gestört wirken.

kreativität ist nichts anderes, als stetig das herrschende system, das vorhandene zu stören, zu verstören und dadurch neues entstehen zu lassen. vorstellbarer kann man dies an moderner kunst ablesen oder an experimenteller literatur. aber dies sind nur die extremen auswüchse eines und desselben vorgangs: dem bisherigen, neues hinzuzufügen. und „neues“ bedeutet immer, dass altes neu ausgerichtet wird. es werden vergleiche hergestellt, das neue wird eingeordnet und das neue reibt sich am alten oder das alte am neuen.

und doch ist die zurückhaltung groß, das kreative schreiben zu einer wirklichen störung werden zu lassen. oft kommt das kreative schreiben sehr leise daher, verhalten, etwas untergründig und persönlich. die kraft der sprache wird meist unterschätzt. gern entstehen dabei heitere texte, deren wutknospen nur in den nebensätzen zu finden sind. es entstehen texte, die versuchen, keine störung zu sein. sie sollen sich anpassen, reinpassen und aufpassen auf den kanon des schreibens, der literatur, der gesellschaft.

dabei ist kreatives schreiben schon längst eine störung und ein ausdruck des querdenkens. aber man zelebriert das querdenken zu wenig, zu vorsichtig. kreatives schreiben ist eine einladung, sich mit den eigenen texten außerhalb des bisher geschriebenen und gedachten zu platzieren. wie heisst das ätzende modewort? nachhaltig! kreatives schreiben kann nachhaltig verstören. das heisst noch nicht, dass es Weiterlesen

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„wozu lesen?“ von charles dantzig – ein buchtipp

dieses buch ist eine wunderbare ergänzung zu ecos und carrières buch „die große zukunft des buches“. entpuppen sich eco und carriére als büchersammler und -liebhaber, als bibliophile, so ist charles dantzig der ultimative leser. jemand der nicht aufhören kann, beständig zu lesen. seine passion begann als kind. es war der versuch, der erwachsenenwelt näher zu kommen, es den erwachsenen gleich zu tun, in der hoffnung ebenso viel macht über den alltag zu erlangen. dies stellte sich zwar erst einmal als trugschluss heraus, doch es entstand eine lust an der literarischen einkehr. und es stellt eine provokation dar.

so schreibt danzig unter der überschrift „lesen, um sich abzusondern“: „lesen ist ein schwerer fall von selbstabsonderung. ich behaupte, man liest gerade, um sich abzusondern. skandalös! es hat mich immer schon erstaunt, welcher abscheu lesenden menschen, ich meine echten büchernarren, entgegenschlägt. ich selbst wurde von frühester jugend an dafür gehasst, wie ich war, weil ich diesen eigenartigen lesehunger verspürte, … in paris spaziere ich häufig lesen die rue de rennes entlang. seit einigen jahren sind dort … menschen postiert, die umfragen machen. ich kann mich fest darauf verlassen, dass mich einer von ihnen darum bitten wird, ein paar fragen zu beantworten. dabei deutet meine ganze haltung auf innere einkehr hin. ich sehe darin einen feindseligen und gehässigen akt gegen meine person. diese leute vertreten das uniforme denken, gott weiß, dass umfragen eine form von uniformem denken sind. kein wunder, dass sie den anblick von menschen, die ihre einsamkeit offenkundig genießen, nicht ertragen können.“ (s. 78)

und so entpuppt sich charles dantzig in seinem buch „wozu lesen?“ als verfechter des ungestümen, ungebremsten beinahe süchtigen lesens. er erteilt in kleinen, kurzen betrachtungen zu vielen verschiedenen aspekten des lesens zum beispiel pädagogischen zielen des lesens eine abfuhr. denn leserInnen können auch weiterhin mörderInnen sein, diktatorInnen oder despoten sein. sie können es aber auch sein, wenn sie nicht bücher lesen. es stimmt laut dantzig also nicht, dass lesen bildet, dass man beim lesen automatisch lernt. er betrachtet das lesen aus allen blickwinkeln: „lesen verändert uns nicht“, „lesen, um sich auszudrücken“, „lesen, um die buchmitte zu überwinden“, „lesen, um sich zu widersprechen“ oder „lesen, um sich zu verjüngen“ und „lesen als laster“ lauten beispielhaft die überschriften.

ein amüsantes buch für vielleserInnen. denn man fühlt sich bestätigt in all seinem tun und denkt während des lesens: „jawoll ja, er hat ja so recht.“. und man entdeckt am eigenen lesen noch so viel interessantes, das man bis zu dieser lektüre noch gar nicht bedacht hatte. hier meine antwort auf die frage „wozu lesen?“: „wegen diesem buch!“.
das buch ist 2011 im lagerfeld, steidl, druckerei verlag in göttingen erschienen. ISBN 978-3-86930-366-6