nabelschau (66)

die muße-verachtung. bei begegnungen mit menschen kann man zur zeit etwas erschreckendes feststellen (na ja, ganz neu ist es nicht, aber gefühlt nimmt es zu) – viele laufen am limit. es gab sie schon immer, die gestressten, die wirbelwinde, die workaholics. der große unterschied besteht meiner ansicht nach darin, dass die hektik, die taktung und der stress nicht mehr frei gewählt sind. sie sind da in etwas reingerutscht, aus dem sie kaum mehr herauskommen.

noch interessanter wird das ganze, wenn man den nebeneffekt mitbekommt. selbst in momenten der totalen erschöpfung und am anfang der erholungsphasen wird von betroffenen der muße oder dem nichtstun abwehr und abwertung entgegengesetzt. die schwierigkeit besteht darin, dass sie sich dadurch selber abwerten. denn sie haben nichts nötiger, als eine längere ruhephase, als eine rückbesinnung auf sich selber. heutzutage gibt es nichts schlimmeres als nichts zu tun. ruhephasen stehen unter rechtfertigungsdruck.

also muss die freizeit ebenso gefüllt, getaktet und überfrachtet werden wie das arbeitsleben. oder die kräfte reichen nur noch zum zudröhnen, also zum beballern mit eindrücken und chemischen zusatzstoffen. ruhephasen geraten so zu störungen und sind oft genug gestört. schlafen klappt nicht mehr richtig, dösen ist unangebracht und gedanken schweifen lassen wirkt lethargisch in den augen vieler. und alle haben im hinterkopf, dass sich die außenbewertung vor allen dingen auch an einer sinnvollen gestaltung der freizeit orientiert. hier möchte man einen eindruck hinterlassen.

lang habe ich mich gegen den „mode“-begriff burn-out gewehrt. doch ich kann nicht umhin zuzugeben, dass es wohl mehr als eine mode ist, die selbst- aber vor allen dingen auch fremdüberforderung zu benennen. die körperlichen und seelischen reaktionen sind zu heftig. und vor allen dingen die abwehr gegenüber der forderung nach ruhe und muße spitzt sich weiter zu.

dies nimmt inzwischen autistische züge an. das handy-zucken und -zücken im nahverkehr ist nicht mehr zu übersehen, das hektische wühlen in taschen und rucksäcken nicht zu überhören. man hat den eindruck, ein ganzes land verlernt es, (be)ruhig(t) sitzen zu können. es könnte eine nachricht eintreffen, es könnte etwas vergessen worden sein, es könnte jemand anrufen, es könnte etwas passieren, ohne dass man es wahrgenommen hat. irgendwann wird im sekundentakt der blick auf die geräte geworfen, wird jede bewegung mit einer zusätzlichen tätigkeit verbunden.

vielleicht hat es auch nur mit dem frühling zu tun, das kann man nur hoffen. doch die stimmen aus den psychosomatischen kliniken und den kur-zentren sprechen eine andere sprache. da kann man sich nur wünschen, dass die scham und abwehr gegenüber der muße und dem nichtstun abnimmt. denn nicht ein besseres zeit-management kann die lösung sein, sondern die (selbst)anerkennung, dass man genug geleistet und gearbeitet hat und es einem zusteht, eine ruhephase einzulegen.

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