Adeles Sicht:
Hoffentlich hatte ich die Karten auch in meine Tasche gesteckt. Ich schaue lieber nochmals nach. Geldbörse, Taschentücher, Haustürschlüssel, Handy – hatte ich das eigentlich bereits auf stumm gestaltet? Dann mach ich das besser mal gleich, ah, gut erledigt – Taschenspiegel, Handcreme. Wenn Alfons nur noch so rasant fahren würde. Dabei haben wir es ja noch nicht mal so eilig. Die Oper beginnt erst in einer Stunde, uns bleibt sogar noch Zeit für ein Glas Sekt vorweg. Lippenstift, Haarbürste, Regenschirm – wobei es ja eigentlich nicht regnen sollte heute Nacht, bei dem klaren Himmel – Monatsprogramm des Stadttheaters, mein Kalender. Keine Karten. Ich hatte sie doch eingesteckt, wo waren sie nur? Alfons verstand mein Unbehagen natürlich mal wieder gar nicht.
„Die hast du schon irgendwo, Liebes“, sagte er und fetzte mit 70 Sachen in die nächste Kurve.
„Gott gütiger, Alfons, wir sind schließlich in der Stadt. Meines Wissens nach ist hier immer noch 50 erlaubt.“
Alfons grummelte. Wie immer, wenn er wusste, dass ich recht hatte. Dennoch drosselte er die Geschwindigkeit, als ich mich bei der nächsten Kurve ganz demonstrativ an den Handgriff oberhalb der Tür hing und ein „aaahhhh“ von mir gab. Gut, vielleicht hatte ich mich auch etwas zu sehr mit in die Kurven gelegt. Trotzdem. Nicht umsonst gab es eine Geschwindigkeitsbegrenzung. Nachdem Alfons endlich in gemäßigterem Tempo fuhr, wühlte ich nochmals in meiner Tasche. Das darf doch nicht wahr sein.
„Ich glaube, ich habe sie tatsächlich zuhause auf dem Küchentisch liegen lassen.“
„Hast du nicht, Liebes“, erwiderte Alfons beharrend. „Du hast sie in dein Portemonnaie getan, direkt hinter dein Monatsticket.“
Seufzend schaute ich dort nach und murmelte ungläubig vor mich hin: „Das kann ich mir zwar nicht vorstellen, da würde ich sie doch nie…“
Die letzten Worte kamen mir nicht mehr über die Lippen, denn in meinen Händen hielt ich tatsächlich die zwei Karten für Verdis Aida. Ich seufzte.
„Ach, da bin ich aber froh. Sonst hätten wir noch zurück fahren müssen, und dann wäre doch alles etwas knapp geworden.“
Zufrieden und beruhigt schloss ich den Reißverschluss meiner kleinen Handtasche – allerdings nicht ohne vorher nochmals mein Gesicht in dem kleinen Taschenspiegel zu betrachten. Die Lidschatten waren zum Glück nicht verschmiert, wobei ich ja nicht so der Held war im Schminken. Noch dazu in meinem Alter. Rosalie, meine gute Freundin schon aus Schulzeiten, zetert ja immer mit mir und meint, mit über 70 müsse man sich nicht mehr schminken.
„Wenn man jetzt keinem mehr gefällt, dann ist es eh zu spät.“
Recht hatte sie eigentlich. Trotzdem. Verwahrlost in die Oper zu gehen, das geht nun tatsächlich nicht. Den Lippenstift zog ich nach und war froh, dass Alfons ruhig auf den Parkplatz fuhr. Eine Lippenstiftspur über die Wangen hätte ich nicht gebrauchen können. Galant wie immer hielt Alfons mir die Tür auf. Gut sah er aus in seinem Smoking.
„Danke“, hauchte ich.
Auch wenn sein Kuss etwas von meinem Lippenstift wegnahm, so war mir dies jeder Kuss von Alfons wert.
Alfons Sicht:
Zum Glück hatte ich rechtzeitig zum Abmarsch plädiert. Ich kannte Adele ja zwischenzeitlich. Auch wenn sie sicherlich nicht so lange brauchte wie andere Frauen: etwas Zeitpuffer hatte noch nie geschadet. Kaum saßen wir im Wagen und waren aus der Einfahrt raus, ging es auch schon los.
„Habe ich die Karten auch wirklich eingesteckt? Ach halte doch nochmals kurz an.“
Und ich hielt nicht an, denn ich wusste ganz genau, dass dies zum ewigen Spiel gehörte, ebenso wie die Frage: „Habe ich jetzt auch die Haustür abgeschlossen oder sie nur ins Schloss fallen lassen?“, wenn wir ins Wochenende fuhren oder der Klassiker vor dem Urlaub: „Ich hoffe, ich habe jetzt auch den Herd ausgeschaltet. Hast du nochmals nachgeschaut, Alfons?“
Habe ich. Immer. Nur, dass ich noch wusste, dass ich nachgeschaut hatte, während meine liebe Frau es anscheinend bereits zehn Minuten nachdem sie es getan hatte, selbst nicht mehr wusste. Ich schüttelte mich mal wieder über die Frauen wundernd den Kopf.
Eine Haarbürste fiel in den Fußraum. Sie suchte. Suchte noch immer diese Karten, dabei hatte sie sie doch in ihre Geldbörse getan – wie immer eben. Ich lies sie erstmal suchen. Auf diese Weise konnte ich immerhin den neuen Mercedes in der Stadt ausfahren. Schnittig war er, da hatte Klaus wieder recht gehabt. Und so wendig, selbst bei kleineren Kurven. Da merkte man halt doch noch, dass das Auto gute deutsche Wertarbeit war und nicht so ein Produkt aus dem Ausland. Denen war ja nicht immer zu trauen. Und Sicherheit wog natürlich ebenso hoch wie das Fahrgefühl. Das sagte ich auch Adele immer, wenn sie über den bezahlten Kaufpreis stöhnte. Trotzdem – auch sie saß gerne drin. Das wollte sie nur nicht zugeben.
Wieder kam Gemurre vom Nachbarsitz. Fahr nicht so schnell – ja, ja. Die gleiche Leier, auch das war ich eigentlich schon gewohnt. Macht nichts. Manches muss man bei Frauen einfach ignorieren, hatte mein Vater immer gesagt. Und nach diesen Spielregeln lebte ich und war nicht schlecht gefahren.
Irgendwann wurde mir Adeles Suche aber doch zu dumm. Nachher hätte sie noch umdrehen wollen, und ich hätte mein Vor-Opern-Bier verpasst. Also half ich ihr auf die Sprünge – und: hatte wie immer Recht. Unsere Karten fand sie in ihrer Geldbörse. Immerhin gab sie dann ein Weilchen Ruhe und konzentrierte sich auf das, was sie am besten konnte: auf sich.
Ich hingegen freute mich an der Leistung des Wagens: 160 PS, schwarz-metallic, Fahrleistung bis zu 230 Kilometer die Stunde – nicht, dass ich jemals in den Genuss käme, diese mit Adele an meiner Seite auszufahren, aber immerhin: Die Freude darüber war groß. Dabei hatte ich Adele bei einem Straßenrennen in Wanne-Eickel kennen gelernt. Und sie wollte keinen geringern heiraten, als den damaligen Schnelligkeitsmeister der Straße.
Ach, das war lange her. Heute fahren wir in die Oper statt Rennen auf Straßen. So ist das Alter. Ich parkte und hielt Adele die Beifahrertür auf. Gekonnt glitt sie aus dem Wagen. Wie immer sah sie umwerfend aus. Und ich war froh, dass wir es mal wieder zeitig für das Vor-Opern-Bier geschafft hatten.
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