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schreibberatung und klischee

beratung bietet sich für die verwendung von klischees an. wer schon länger in beratungszusammenhängen arbeitet, bekommt teilweise ein gespür dafür, welche problemlage bei bestimmten berichten oder äußerungen vorliegen könnte. viele ausbildungen zu beraterInnen arbeiten mit den vorstellungen von verallgemeinerbaren sachlagen und den dazugehörigen lösungsmöglichkeiten. das startet schon bei behörden, die beratungen anbieten und endet in der psychologischen beratung. dies wird, wie wir es wahrscheinlich alle aus beratungssituationen kennen, den subjektiven anliegen oft nicht gerecht.

das grundproblem liegt in einem reduzierten menschenbild, das teilweise auf ein reiz-reaktions-schema zurückzuführen ist. alle beraterInnen machen im laufe der zeit die erfahrung, dass kein beratungsfall mit einem anderen vergleichbar ist. nur leider fehlt oft eine angemessene theorie im hintergrund. aus der kritischen psychologie kommend, erscheint es mir wichtig, dass ein subjektorientierter blickwinkel eingenommen wird. als beraterIn bin ich gefordert, die anliegen der klientInnen in ihrer persönlichen dimension ernst zu nehmen. das bedeutet, das ein stressor für die eine person gut zu verarbeiten ist und für die andere person sofort sehr bedrohliche ausmaße annehmen kann. ich kann dies nicht von außen feststellen oder festlegen, sondern nur durch nachfragen ein bild von der situation bekommen.

wenn ich diese vorgehensweise ernst nehme und ebenso die klientInnen in ihren aussagen ernst nehme, dann kann ich überhaupt nicht mehr mit verallgemeinerungen arbeiten. ich kann zwar formulieren: „vielen menschen an dieser problemsituation geholfen, dass sie …“, aber ich muss im gleichen atemzug die frage nachschieben: „scheint ihnen diese vorgehensweise oder handlungsmöglichkeit umsetzbar? und wenn die klientInnen zu erkennen geben, dass dem nicht der fall ist, dann sollte ich gemeinsam nach weiteren, anderen handlungsmöglichkeiten suchen.

das einzige verallgemeinerbare in solch einem beratungskontext, ist mein pool an schon vorhandenen lösungsvorschlägen, den ich mir im laufe der zeit angeeignet habe. doch die emotionalen dimensionen für die einzelne person, die mir gegenübersitzt, kann ich nicht abschätzen. so lösen sich sehr schnell alle klischees in luft auf. ich kann in der schreibberatung nicht im vorfeld formulieren, dass zum beispiel doktorandInnen diese und jene schreibkrisen haben, schülerInnen wiederum andere benennbare und studierende noch einmal unterschiedliche, aber „übliche“. die heikelste situation, die in einer (schreib)beratung entstehen kann, ist, dass die klientInnen sich in ihren anliegen nicht ernst genommen fühlen. dies geschieht leicht, wenn ich sie ständig in vergleich setze zu „diagnostischen“ kriterien, die mir einmal vermittelt wurden.

diagnostik kann für mich in schreibberatungen nur eine orientierungslinie sein, die ich jederzeit verwerfen kann. mir sollte bewusst sein, dass ich meine bisherigen erfahrungen zwar einbringen, aber sie auch jederzeit Weiterlesen

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biografisches schreiben und klischee

eines der schwierigsten unterfangen ist es, sich selber einmal nach vorurteilen abzuklopfen. sie sind vermittelt, sie sind gelernt und sie haben eine funktion: menschen schneller bei der ersten kurzen begegnung einordnen zu können. als wir noch nicht kommunizieren konnten war dies überlebenswichtig: freund oder (fress)feind. doch heutzutage können wir uns in den meisten momenten kundig machen und das freund-feind-schema ist sowieso stark beeinflusst von moden, gesellschaften und politik. also verwenden wir klischees eigentlich nur, um uns die welt ein wenig einfacher zu machen.

der mensch ist so komplex und jeder mensch ist ein individuum mit ganz subjektiven ansichten und verhaltensweisen. um die welt übersichtlicher zu gestalten, sind die „…“ so und so. manchmal kann es sich bei einer solchen form der verallgemeinerung, tatsächlich um den kleinsten gemeinsamen nenner einer gruppe handeln. doch es braucht eigentlich nur einen menschen dieser gruppe, der aus dem schema herausfällt und unsere verallgemeinerung ist auch schon hinfällig. aber den schritt machen wir beim klischee nicht mehr. wir beharren auf unseren aussagen, um die anstrengung der begegnung mit fremden menschen, zu reduzieren. das klischee ist also ein ausdruck von bequemlichkeit.

wann waren wir in unserem leben also zu bequem, um uns mit den menschen, die uns begegnen, auseinanderzusetzen? wen haben wir damit verletzt? wann wurden wir mit klischees zu unserer eigenen person konfrontiert und wie haben wir darauf reagiert? was machten wir, als ein klischee uns gegenüber auch noch zutraf? haben wir uns in unserem leben die zeit genommen, andere menschen kennenzulernen? es gibt viele fragen für das biografische schreiben, die ein wenig unsere eigenen vorurteile oder die konfrontation mit vorurteilen gegenüber uns selber beleuchten können.

da wir aber gerade bei vorurteilen und klischees recht widerständig sind, sie aufzuheben und zu relativieren, könnten man, wenn man über seine eigene lebensgeschichte schreibt, andere menschen, die einem nahestehen, befragen, was sie glauben, welche klischees man Weiterlesen

selbsterkenntnis – wozu überhaupt?

wir strengen uns an. wir bemühen uns. wir verändern uns. wir versuchen uns anders zu verhalten. wir analysieren uns. wir durchleuchten uns. wir ergründen unsere handlungen. wir strukturieren uns. wir erkennen uns. all dies, so weit wir es uns gedanklich vorstellen können. und wir lernen, dass es nie genug sein kann. wir sind uns sicher, dass wir, wenn wir uns selber erkennen, genug baustellen finden, an denen wir arbeiten können und sollen. so sind wir aufgerufen immer weiter zu wühlen und zu graben, um endlich dem ideal des allumfassend selbstaufgeklärten menschen nahezukommen. verweigern wir uns diesem prozess, stehen schon mahner und warner parat, die uns darauf aufmerksam machen, dass es an der zeit sei, an uns zu arbeiten. wir gelten schnell als nicht sozial kompatibel, wenn wir unsere beweggründe nicht offen legen können. unsere handlungen sind immer begründet, doch wir müssen auch die gründe wissen.

muss das sein? wer stellt die regel auf, dass man sich selber kennen müsse? und wie hat das auszusehen? nun, heute verdächtigen sich viele menschen selber. sie vermuten, dass es in ihren tiefen, in den abgründen ihrer seelen, verstecke gibt, die sie noch nicht erschlossen haben. sie vermuten schlimmes, dunkles oder böses in sich. darum begeben sie sich auf die suche. die suche nach dem wahren kern, dem punkt, ist er einmal ergründet, der den weg zum glück versperrt. dabei übersehen sie gern, dass ihnen beständig von außen die sicht auf ein glückliches dasein verstellt wird. es ist nicht ihr verschulden, indem sie sich nicht zur genüge kennen. es ist höchstens ihr verschulden, dass sie sich die alleinige verantwortung für ihre lebenssituation aufbürden lassen. gern eingenommen werden zwei reaktionsmuster. das eine erkennt irgendwann die behinderungen von außen, resigniert ob der großen macht und formuliert: „ich kann ja sowieso nichts ändern.“ das andere muster verinnerlicht die selbstverantwortung, begibt sich auf die suche nach mehr selbsterkennen, analysiert, durchdringt und zerstückelt die eigene person und findet laufend neue fehler und schwächen, resigniert und formuliert: „ich bin ein schlechter mensch.“

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