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schreibidee (363)

zurückhaltung wird gern als feine wesensart gewertet. in unserer lauten und konkurrenzhaften welt sticht zurückhaltung manchmal heraus. doch zurückhaltung ist auch ein machtmittel – im sozialen kontext nichts preisgeben wollen, andere raten lassen und ein geheimnis aus sich machen. doch es gibt eine form der zurückhaltung, die nicht unbedingt freiwillig geschieht, dann wenn einen die schüchternheit überkommt, wenn man sich unsicher ist. hier eine schreibanregung für „schüchterne texte“.

wie verhalten sich schüchterne menschen? jeder mensch kennt situationen, die verunsichern und einen die eigenen handlungen stoppen lässt. diese unsicherheit strahlt man auch nach außen. eigentlich würde man gern etwas anderes machen, aber irgendwas bremst einen aus. solch eine situation soll zum einstieg von den schreibgruppenteilnehmerInnen erst einmal nur als dialog verfasst werden. was sagt ein schüchterner mensch, wenn er angesprochen wird? wie reagiert er auf fragen oder statements? die dialoge werden nicht in der gruppe vorgetragen, sondern an andere teilnehmerInnen weitergereicht.

im zweiten schritt werden die erhaltenen dialoge von den schreibenden in einen gedanklichen monolog verwandelt. denn schüchternheit ist alles andere, als gedanklicher stillstand. schüchternen menschen geht mit großer wahrscheinlichkeit viel durch den kopf. dies soll nun anhand des dialogs auf maximal zwei seiten verfasst werden. im anschluss werden die dialoge und die gedanken-monologe vorgetragen werden. es findet eine kurze feedbackrunde statt.

nun wendet sich die schreibgruppe dem arrogant-aggressiven potential der schüchternheit zu: es ist eine geschichte zu verfassen, in der ein schüchterner mensch mehr beachtung einfordert. was tut dieser mensch, was denkt dieser mensch? es geht nicht darum, in dem text eine wertung abzugeben, sondern die beweggründe für das teilweise strategische verhalten durchschimmern zu lassen. da gibt es das pochen auf die eigene sensibilität, das abwerten des umfeldes, die selbstverurteilung … viele gründe sind denkbar. die texte werden in der schreibgruppe vorgetragen, es findet keine feedbackrunde statt.

zum abschluss wird ein längerer „schüchterner“ text verfasst. dieses mal geht es nicht darum, einen menschen, seine gedanken oder seine kommunikation abzubilden. der text selber sollte schüchtern daherkommen. den schreibgruppenteilnehmerInnen wird überlassen, wie sie dies umsetzen. anschließend wird der text vorgetragen und in der feedbackrunde wird betrachtet, welche stilistischen oder sprachlichen mittel den text schüchtern erscheinen lassen. und wem das alles zu sanft war, der kann zum schluss der schreibgruppe noch eine halbe seite lang direkte, deftige und klare worte zum abreagieren finden, die nicht vorgetragen werden.

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wissenschaftliches schreiben und schreiben

im gegensatz zum vorherigen post ist das wissenschaftliche schreiben ein ort der konventionen. kaum eine schreibform ist so klar reglementiert und standardisiert. es gibt einen beinahe weltweiten konsens für veröffentlichungen, formen des zitierens, abschlussarbeiten und dergleichen mehr. ziel des ganzen ist der (krampfhafte) versuch, wissenschaftliche erkenntnisse vergleichbar zu machen. leider leidet unter diesen konventionen meist die schreibsprache und ein großteil der wissenschaftlichen schreibe kommt unglaublich langweilig daher.

dass es auch anders geht, zeigen meist vorträge, vorlesungen oder „populärwissenschaftliche“ texte. hier darf wieder ausgeschmückt, animiert oder akzentuiert werden auf teufel komm raus. von sehr ernsten wissenschaftlern werden diese formen der äußerung abgewertet und gleichzeitig ihr gehalt in frage gestellt. wie wenn wissenschaft frei von jeder schreiblust sein müsse. so lange nicht fabuliert wird, also behauptungen aufgestellt werden, die nicht beweisbar und nachvollziehbar sind, dürfte eine entkrampfte sprache den wissenschaften eigentlich nicht schaden. (übrigens wird in den konventionellen forschungstexten teilweise versteckt unglaublich viel fabuliert, werden ganze forschungsergebnisse gefälscht.)

wer also nicht seinen status in den forschenden welten verlieren möchte, der halte sich an die konventionen. und wenn er mutig ist, dann veröffentlicht er noch nebenher ein knalliges populärwerk. doch auch dabei sei vorsicht geboten, denn zu viel aufmerksamkeit kann schnell bei anderen den oben beschriebenen reflex auslösen: zweifel an der ernsthaftigkeit des wissenschaftlichen vorgehens. es ist faszinierend, wie durch diese bewertungen eine form der Weiterlesen

web 2.0 und diskurs

diskussionen nehmen im internet oft einen seltsamen verlauf. besonders auffällig finde ich dies in fachforen und ganz speziell in foren rund um computerfragen. es ist wahnsinn, wie schnell jemandem von anderen erklärt wird, dass er seinen computer einfach überhaupt nicht kapiert. besonders faszinierend finde ich es, dass diese foren explizit dazu angelegt sind, sich gegenseitig zu unterstützen und schwierigkeiten zu klären. doch selten werden sie geklärt, oft halb beantwortet und meist driftet der diskurs dann ab.

anscheinend werden auch viele fachforen nicht wirklich von administratorInnen gepflegt, denn auf der suche nach antworten, findet man zwar schnell eine identische frage zur eigenen, aber man findet eben kein brauchbares ergebnis, dafür diskurse über diskurse ohne viel inhalt. dies wiederum kostet viel zeit. da die foren bei den suchmaschinen jedoch recht weit oben als am anfang angesiedelt sind, kann davon ausgehen, dass noch mehr menschen außer mir dies seiten aufrufen.

was für diskurse in foren im web 2.0 definitiv noch fehlt, das ist der „enttäuschungs-button“. an solch einem button könnten sich die suchmaschinen orientieren und somit unbrauchbare foren im nirvana des netzes verschwinden lassen.

doch auch ohne das absprechen der fachlichkeit, gestalten sich diskurse im netzt immer etwas unklar. man hat das gefühl, dass vieles schnell ins persönliche kippen kann und oft auch kippt. dies hat wahrscheinlich mit der erheblichen distanz zwischen den diskutierenden und vor allen dingen mit dem schreiben zu tun. man kann den tonfall des geschriebenen Weiterlesen

kreatives schreiben und saftig

das leben ist bunt. darüber lässt sich vortrefflich schreiben. gern werden die worte gepflegt und geordnet gewählt, wird mit metaphern ein bild gezeichnet und eine story erzählt. doch das leben ist mehr. es ist kraftvoll, manchmal direkt und deftig. aber in diesem zusammenhang ist ein großteil der schreibenden sehr zurückhaltend. die worte werden weiterhin umgänglich verwendet. selten gehen schreibende „in die vollen“. warum eigentlich?

unsere sprache bietet gute möglichkeiten auch das zu formulieren, was vor kraft aus allen nähten platzt. menschen begeben sich gern zwischendurch in rauschhafte zustände, sie werden laut und direkt. aber beim schreiben gilt großteils ein konsens, der dies nicht mit entsprechenden worten abbildet. nur beim sex wird direkter formuliert. aber was schreibt man, wenn sich jemand einfach nur im wohlfühlen baden soll, sich seine wünsche und träume erfüllen und er der meinung, die welt gehöre ihm oder ihr?

klar, viele geschichen leben von der tragik und dramatik, schönes funktioniert teilweise nicht so gut und positives denken ist opium fürs volk, angesichts all der schlechtigkeiten. „schön“ wird es meist nur in den schmonzetten, in denen der sonnenuntergang am meeresstrand auf das glückliche paar scheint oder über die blühende wiese im frühling auf der alm gewandelt wird und die vöglein von den waldrändern zwitschern. dabei wäre es lohnenswert sich literarisch oder schriftlich einmal in ein kneipe zu begeben, wo sich die leute alkoholgeschwängert den mund fusselig reden, kein ende finden, sich die welt erklären und im gemeinsamen schwelgen.

auch in diesen situationen ereignen sich geschichten. oder jemand erfüllt sich nach jahrzehnten den traum seines / ihres lebens. und es klappt. hier braucht es eine umschreibung, die die dimension des erfüllens auch erfasst. da darf nicht nur von glück gesprochen werden, da ist das überschwemmt werden mit positiven gefühlen zu beschreiben. aber das fällt schwerer als die umschreibung, wenn der traum scheitert, wenn alles wieder vernichtet wird.

also, wie sieht das leben, die geschichte aus, wenn sie saftig sind? es wird geschwelgt, geschwärmt, es pulsiert, es tropft aus jeder pore, es blüht, es knallt einem entgegen, es trägt einen, es baut auf, es ergänzt, schmatzt, prall gefüllt öffnet sich der kelch, es ist fettig, süß und macht satt. es blickt einen aus großen augen mit offenem mund an, schreit, tobt und tanzt ekstatisch, es perlt, flüstert und schwimmt oben wie fettaugen, es pulsiert, stampft und atmet rhythmisch, es brüllt vor freude und verliert sich in wollüstigen. das kreative schreiben darf zwischendurch den höhepunkt des saftigen lebens beschreiben, zum beispiel um den kontrast zu den abgründen zu erhöhen oder auch nur eine seite der medaille zu beschreiben.

nabelschau (28)

und tschüss! abschied ist nicht gleich abschied. es lassen sich unterschiedliche formen des abschieds feststellen.
da ist die flucht. eigentlich könnte man ja noch weitermachen, eigentlich weiß man ja nicht, was man jetzt noch sagen soll, eigentlich war es richtig schön. da muss man ganz schnell weg, sonst ergeht man sich in hilflosigkeiten.
da ist die wut. man möchte noch nicht voneinander scheiden, aber äußere zwänge nötigen einen. es wäre noch so viel zu sagen gewesen, es wäre noch so viel zu klären gewesen, es hängt noch so viel unausgesprochenes im raum. doch die zeit drängt, ein schlussstrich muss gezogen werden. man scheidet eigentlich nicht aus der welt, doch in diesem moment scheint es so. das macht wütend. und tschüss!
da ist die gleichgültigkeit. meist geht dieser abschied mit beruflichen verpflichtungen einher. die sitzung ist beendet, das seminar vorbei, die verhandlungen sind zum abschluss gekommen. alle teilnehmerInnen ziehen wieder ihrer wege. die ziele sind mehr oder weniger erreicht, man hat kein interesse persönliche kontakte aufzubauen, es war nur arbeit. hier spielen emotionen keine große rolle. man verabschiedet sich, da weitere verpflichtungen anstehen. der abschied ist ein kurzes, schmerzloses ritual, manchmal noch einhergehend mit neuen terminvereinbarungen.
da ist das hin und her. man möchte sich nicht trennen, bekommt schon beim abschied sehnsucht auf den anderen. man umarmt, sagt schönes und geht seiner wege. doch man kehrt gleich darauf wieder um, geht noch einmal aufeinander zu, wiederholt den abschied, will nicht gehen. auch das gegenüber will nicht verlassen. es scheint, wie wenn der abschied für immer sein sollte. also die phase der trennung so lang es geht hinauszögern. es gibt keine regeln dafür, wie oft das hin und her stattfinden darf. im letzten moment kann man ja noch entscheiden, einfach nicht zu gehen.
da ist das wortlose. die begegnung war scheisse. man fühlt sich unbefriedigt, unzufrieden mit der eigenen rolle. es grummelt im innern, es wühlt und kocht hoch. nun geht es darum beim abschied das gesicht zu wahren, nicht ausfällig zu werden. also schweigt man. schweigen ist auch eine wunderbare form beim gegenüber noch ein wenig die schuld für das misslingen abzuladen. wortlose verabschiedungen, eventuell noch nicht einmal ohne nicken, sollen verletzen. sie sind alles andere als „sprachlos“.
da ist das zärtliche. man weiß, man wird sich wiedersehen. man weiß, man kann sich aufeinander verlassen. es gibt viele sicherheiten im hintergrund. man wird sich nicht aus den augen verlieren und man hatte sich eine menge zu sagen. der stoff für weitere begegnungen geht nicht aus. in diesem moment wird die nähe in den abschied gepackt, einen zufriedenen abschied. beide sind sich einig, dass es nun die richtige zeit ist, voneinander zu scheiden, ja zärtliches ist ein ausdruck von einigkeit.
da ist das dramatische. dieser abschied dient im selben atemzug auch der katharsis. emotionen wandeln das scheiden in eine seifenoper. harte und zarte worte wechseln in hoher frequenz, beschimpfungen oder lautstarkes eingeschlossen. es spitzte sich eine situation auf den abschied hin zu. es gibt kein entrinnen, nur ein trennen, doch die bindung wird durch die emos eher gestärkt, denn aufgehoben. das dramatische ist die dampframme unter den abschieden.
da ist das charmante. die hand zum abschied ein wenig länger gehalten als üblich, der blick in die augen gegenüber tief. dieser abschied ist ein anfang. es soll mehr daraus werden, es soll auf keinen fall für immer sein, nein, eigentlich soll signalisiert werden, dass man interesse am gegenüber hat. kleine komplimente werden zum schluss hinterhergeworfen, über die straße gerufen. man sieht sich.
da ist das vielfältige. es gibt noch viele andere abschiede. vielleicht als schreibübung für die nächste schreibgruppe. im abschied steckt zumeist die zusammenfassung des vorhergehend und manchmal auch der ausblick auf zukünftiges. selten ist es eine trennung für immer. aber es ist ein ritual für einen wechsel zu anderen lebenstätigkeiten.