ab wann habe ich eine lebensgeschichte?

der gedanke, erst im hohen alter lohne es sich, seine lebensgeschichte aufzuschreiben, ist weit verbreitet. viele menschen gehen davon aus, dass sie in jüngeren jahren noch nicht viel zu erzählen. sie leben in der erwartung, dass noch viel passieren wird. und erst wenn viel passiert ist, haben sie auch anderen etwas mitzuteilen. dabei kann es vorkommen, dass sie jahre später der meinung sind, es sei immer noch nicht viel in ihrem leben geschehen. und so finden sie sich dann in hohem alter in der situation wieder, dass sie der meinung sind, es sei nichts aus ihrer vergangenheit mitteilenswert.

in diesem gedanken steckt zum einen die vorstellung, es benötige dramatische entwicklungen, um etwas erzählen zu können. zum anderen wird davon ausgegangen, dass biografisches schreiben sich vor allen dingen an den leserInnen orientiere. letzteres habe ich hier schon thematisiert. ich möchte mich der frage zuwenden, ab wann ich davon ausgehen kann, eine „lebensgeschichte“ erlebt zu haben. auch hier ist die erste antwort kurz und knapp: ab dem moment, ab dem ich schriftlich beschreiben kann. fragen sie einmal ein kind, was es denn bis jetzt so erlebt hat und sie werden viele geschichten erzählt bekommen.

nur erwachsene fangen an, vieles erlebte als bedeutungslos zu bezeichnen. meist sind die wertungen über erlebtes gar nicht ihre eigenen, sondern annahmen, die sie aufgrund der urteile anderer machen. orientiere ich mich zum beispiel an einem extremsportler, erscheint mein leben in bezug auf körperliche anstrengungen und extremerfahrungen sicherlich nüchtern und langweilig. ich vergleiche in diesem moment aber birnen mit äpfeln. im vordergrund für das biografische schreiben sollte zu beginn die einfache frage stehen: was hat mich am meisten bewegt? es gibt keinen menschen, den nichts bewegt hat.

bewegen können einen „kleine“ ereignisse, wie ein kinoabend, an dem man einen film gesehen hat, der einen in den grundfesten der eigenen vorstellungen erschüttert hat. bewegen kann einen natürlich auch, eine traumatische situation erlebt zu haben, wie den tod eines geliebten menschen. kinder machen einem aber vor, dass ganz alltägliche begebenheit ebenso wichtig und bewegend erlebt werden können. natürlich entwickelt man in manchen zusammenhängen im laufe seines lebens eine routine. ein kind mag es in unserer leistungsgesellschaft noch als sehr einschneidend erleben, in einer konkurrenzsituation zu unterliegen. als erwachsener ist man dies gewöhnt und macht nicht mehr viel aufhebens darum.

doch dafür kann es dann andere situationen geben, die einen stark berühren. plötzlich taucht ein mensch aus dem eigenen umfeld auf, der für einen da ist, wenn es einem schlecht geht. ein mensch, mit dem man nicht gerechnet hätte. oder freunde, denen man vertraute, enttäuschen einen. unser erleben befindet sich in einem ständigen umbruch. auch der glaube, die intensiven ereignisse nähmen im laufe der zeit ab, ist nicht aufrecht zu erhalten. mit achtzig jahren kann man sich noch ebenso intensiv und erschütternd verlieben, wie mit 13 jahren in der pubertät. es mögen sich die bewertungen der ereignisse verschieben, doch die fähigkeit zu starken emotionen verliert der mensch nicht.

das aufschreiben der eigenen lebensgeschichte wird vor allen dingen dadurch interessant und intensiv, dass man sich den starken emotionalen momenten zuwendet. das kann schmerzhaft, befreiend oder auch „nur“ schön sein. fängt man aber einmal an, egal welchen alters, auf diese momente zu blicken, fällt einem schnell auf, wie viele man erlebt hat. die größte überwindung beim biografischen schreiben, besteht für viele menschen wahrscheinlich darin, den blick auf die bewegenden zeiten zu richten. nicht selten ist der blick mit angst verbunden. man hat angst, es könnte anstrengend werden. die angst ist nicht ganz unbegründet. doch meist wird dies dadurch aufgewogen, dass man in der folge sein leben immer intensiver betrachtet. das offeriert einem im laufe der zeit eine immer größere bandbreite an handlungsmöglichkeiten und vermittelt einem das gefühl, näher an den eigenen bedürfnisse zu leben.

also gibt es keinen hinderungsgrund, biografische schreibgruppen mit jugendlichen oder mit jungen erwachsenen zu veranstalten. auch diese altersgruppen haben schon viel zu erzählen. einzige voraussetzung ist es, dass die menschen ein interesse haben, sich selber zuwenden zu wollen.

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