Tagesarchiv: 15. Oktober 2011

biografisches schreiben und weinen

ist ihnen schon einmal aufgefallen, dass es für das weinen wenige wertfreie synonyme oder umschreibungen gibt. ja gut, tränen fließen und wir schluchzen vielleicht auch dabei, ja wir heulen. aber der rest, greinen, flennen und jammern sind abwertende begriffe. wir scheuen also den blick auf den ausdruck großer traurigkeit oder hilflosigkeit, uns fehlen die worte.

dem sollte beim biografischen schreiben etwas entgegen gesetzt werden. zu weinen ist meist ein ausdruck für die realisierung einer unangenehmen situation (abseits der freudentränen). es ist ein schritt in richtung veränderung, wahrnehmung und ein ausdruck unserer gefühlslage für andere. doch in gesellschaften, in denen man die gefühle lieber weiterhin für sich behält, da fällt das weinen weiterhin schwer. es gibt kulturen, die der trauer lauten, klagenden ausdruck verleihen und sich dafür nicht schämen.

bei uns macht es weiterhin viele menschen hilflos, wenn jemand weinend vor einem steht. ganz schnell soll dieser ausdruck verschwinden und es wird alles unternommen, um nicht zu viel von der traurigkeit anderer mitzubekommen. schade eigentlich, da es kaum solch eine umfassende körperliche reaktion auf emotionale zustände gibt. das will was heißen.

bei der betrachtung der eigenen lebensgeschichte sollte man ruhig einmal den blick darauf werfen, wie schwer oder leicht einem das weinen gefallen ist. in welchen situationen konnte man nicht mehr an sich halten und wie haben die menschen um einen herum reagiert? hat man sich in diesen momenten aufgehoben gefühlt? wie reagierte man selber auf die trauer anderer? haben wir deshalb so viele beerdigungsvorschriften, weil wir den emotionalen ausbruch bei verlusten in rituale umlenken wollen? selbst elefanten weinen.

vielleicht ergibt sich durch das biografische schreiben ein etwas anderer blick auf die möglichkeit, durch hemmungsloses weinen einem einschneidenden moment ausdruck zu verleihen. kinder können noch weinen, irgendwann verschwindet diese fähigkeit bei den meisten menschen im gaaanz privaten. wie sagte einmal eine gute freundin „man sollte alles zelebrieren, auch die traurigkeit“.

na dann, heulen wir doch ausgiebig beim betrachten der traurigen momente unserer biografie, denn die gibt es auch, bei jedem menschen. und schämen wir uns nicht dafür, dass unsere augen dem inneren ausdruck verleihen.

nabelschau (54)

wie politik am rolli scheitert. der rollstuhl ist eine möglichkeit für menschen, die aus körperlichen gründen schwierigkeiten mit der fusslichen fortbewegung haben, die rollende fortbewegung zu nutzen. mit manchen rollstühlen kann man beinahe ebenso überall hinkommen wie ohne rollstuhl – nur nicht in den bundestag. da wird die körperliche verfassung zum hinderungsgrund, an der politik des landes teilzuhaben.

ja, es ist ein langer weg, gebäude rollstuhlgerecht zu gestalten, und manchmal mag es auch kaum möglich sein (aus finanziellen gründen im privaten bereich). aber es hat sich in den letzten jahren einiges getan. doch die veränderungen des öffentlichen lebens gehen immer noch schleppend voran. nun sollte wohl darüber und über andere themen mit rollstuhlfahrerInnen im bundestag diskutiert werden. man rechnete mit wenigen anmeldungen zur diskussion (sind ja rollstuhlfahrer ;-)). doch da der rolli menschen mobil macht, wünschten 100 menschen, an der diskussion teilzunehmen, allesamt fahrend.

das geht nicht, war die reaktion des bundestages. es sind die verwaltungsvorschriften feuerpolizeilicher und anderer art, die es unmöglich machen, das treffen stattfinden zu lassen. wir schaffen es zwar, dem papst die ganze stadt zu räumen, damit er ungestört messen abhalten kann, aber wir schaffen es nicht, 100 rollifahrer in den bundestag zu lassen. faszinierend, wie hilflos parteien am politischen interesse etwas breiterer weggefährten scheitern.

durch die absage an die rollifahrer stellt sich mir eine ganz andere frage. wird eigentlich bei den menschen, die sonst zu gast auf tribünen oder zu diskussionen im plenarsaal sind, der body-mass-index und die gehfähigkeit erfasst? mag doch mancher dicke mensch, ungelenker und hilfloser aus feuerpolizeilicher sicht sein, als viele rollifahrer. und es stünde unserer regierung gut an, ratzfatz baumaßnahmen zu unternehmen, um die auflagen für rollifahrer zu erfüllen. das dürfte man sich schon einmal etwas kosten lassen. oder wo fängt diskriminierung an?