Tagesarchiv: 12. März 2011

aus aktuellem anlass: Moderner Scheiss

liebe leserInnen, aus aktuellem anlass eine kleine kolumne, die im oktober 2010 veröffentlicht wurde. man beachte vor allen dingen den letzten längeren absatz (dann doch noch einmal markiert). wer heute nicht über die ereignisse in japan aus mitgefühl diskutieren möchte, hat lang sein mitgefühl mit den menschen und ihren bedenken vernachlässigt.

Ein kleiner LeseZirkel

Es muss ja mal geschrieben werden. Es gibt Dinge, die schwer zu akzeptieren sind. Je älter man wird, um so schwerer fällt es, diese Dinge zu akzeptieren. Zweifel überkommen einen, ob man sich langsam in ein konservatives Fahrwasser begibt oder ob doch vermehrt Scheisse in den Alltag Einzug hält. Ja, so drastisch darf das mal geschrieben werden. Und da die Moderne schon längst an uns vorüber gezogen ist, müsste ich eigentlich schreiben, dass es sich um post-post-modernen Scheiss handelt. Der sei hier nun aus ganz persönlicher Sicht aufgezählt:

3-D-Fernsehen. Wer braucht das? Einen Wal, der einem im Wohnzimmer entgegenspringt oder das Maschinengewehr, das einem unter die Nase gehalten wird? Würden wir die Wal nicht umbringen, könnte man sie live erleben. Würde man sich bei der Bundeswehr (demnächst eine Söldnertruppe im Kriegseinsatz) bewerben, kann man das Maschinengewehr hautnah haben. Und ginge man einmal ins Theater, wäre das 3-D-Erlebnis ganz real. (Leider ist Schlingensief verstorben, mit ihm konnte man in der Volksbühne Schauspieler hautnah erleben, die einem Nivea ins Gesicht schmierten.)

Homestories. Was interessiert es mich, was Herr Kachelmann gemacht hat, was Herr Sarrazin denkt oder wie sich Bergleute monatelang in einem Berg die Zeit totschlagen? Mich interessiert eher, warum meine Nachbarn so einen fürchterlichen Tschilp-Vogel haben, der mit dem Sonnenaufgang zu kreischen beginnt oder warum das Nettogewicht vieler Produkte abnimmt, aber der Preis gleich bleibt. Es würde mich auch noch interessieren, warum die Banken, die für sie gemachten Schulden nicht zurückzahlen, anderen aber gleich mit der Pfändung gedroht wird, wenn sie im Rückstand sind. Doch heute müssen sie alle medial aufbereitet kochen, heiraten, Häuser kaufen, sich bewerben und natürlich ihre Schulden in Griff bekommen, ganz abgesehen von der Kindererziehung. Ich will das nicht.

Filme ohne Abspann. Das Fernsehen zeigt Spielfilme. Teilweise sogar gute Spielfilme (selten vor 24.00 Uhr). Doch das Fernsehen zeigt nicht mehr, wer die Filme gemacht hat, noch welche Musik gespielt wurde. Es gibt keinen Abspann mehr. Das Nachschmecken der Filme mit passender Musik wird einfach gestrichen. Gut, bei den privaten Sendern bleibt dadurch mehr Zeit für die Werbung. Aber wieso ARD, ZDF und arte inzwischen in den Abspann quatschen müssen, ja, ihn sogar beschleunigen, wodurch die Musik dann nicht mehr hinterherkommt und irgendwann ausgeblendet wird, das kann einem niemand erklären. Anscheinend sind wir selbst in der tiefen Nacht noch so in Eile, dass wir den Film überhaupt nicht mehr wirken lassen können.

Mütter in Geländewagen vor Privatschulen. Ja, die lieben Kleinen, die Brut, sie muss geschützt werden. Dazu gehört es, dass sie nicht mehr die öffentlichen Nahverkehrsbetriebe nutzen dürfen, dass sie nicht nass werden dürfen und dass sie auch nicht mehr Fahrrad fahren können. Dazu gehört, dass die alle von Mutti an der Schule abgeholt werden müssen. Na ja, und auf eine Privatschule schicken vor allen Dingen Eltern mit Schotter ihre Kinder (Apropos Bildungsgerechtigkeit). Da der Schotter mit der Brut transportiert werden muss, braucht es einen Geländewagen. Denn der Kampf, auf den die Kleinen vorbereitet werden, beginnt vor der Haus- und der Schultür. Deswegen fährt Mutti auch alle anderen über den Haufen, die nicht zu ihr gehören. Ich glaube Darwin nannte das Selektion. Da kommt was auf uns zu, wenn die Küken groß sind.

Online-Banking und Online-Shopping. Gerade wurde wieder berichtet, dass das Online-Banking alles andere als sicher ist. Auch Kreditkarten-Daten oder persönliche Bankverbindungen werden gern mal ausspioniert, zweckentfremdet und verkauft. Doch der freie Markt versucht die Verbraucher dazu zu zwingen, diese unsicheren Wege zu beschreiten. Die Beratung bei der Bahn kostet Aufschlag, die preiswertesten Zugverbindungen erhält man nur über das Internet. Ähnlich ist es mit Last-Minute-Reisen, mit Schnäppchen beim Musikhandel oder mit dem Abwickeln der Steuer. Und sollte man doch auf persönliche Überweisungen bestehen, bekommt man keine ausgefüllten Vordrucke mehr bei den Berliner Elektrizitätsbetrieben. Man darf gefälligst die mindestens 13-stellige Kundennummer selber eintragen. Ach ja, sollte die Überweisung falsch ankommen, haftet inzwischen der Kunde. Und wie lang war noch einmal meine ganz individuelle Personenkennziffer bei der Steuer, und diese Nummer bei Auslandsüberweisungen und …

Brückentechnologien. Ja, die Betreiber würden gern ihre AKWs laufen lassen, bis sie in die Luft fliegen. Denn eigentlich ist ja alles sicher. Und eine Endlagerstätte für den ganzen Müll kann man sich ja auch später noch aussuchen. Das Zeug hält ja verdammt lange. Also eigentlich ist es gar nicht kaputtbar. Daher kommt wahrscheinlich dann auch der Ausdruck Brückentechnologie, denn Brücken müssen ebenfalls sehr stabil sein. Oder wer hat sonst den Schwachsinn ersonnen, dass wir plötzlich Atomenergie zwischen Öl und Sonne bräuchten. Wie war das noch einmal mit den Blockheizkraftwerken, dem Wind, dem Wasser, dem Biogas, den Gezeiten, der Erdwärme, der Müllverbrennung und all den anderen Dingen? Sie sind keine Brücke, sie sind nicht aus Beton!

Was soll der ganze Scheiss? Irgendwer verarscht uns hier!

schreibberatung und vertrauen

schreibberatung ist in erster linie eine beratung. wie lässt sich vertrauen in beratungen herstellen? eine wichtige frage, da beratung ohne vertrauen mit großer wahrscheinlichkeit kaum erfolg und wirkung zeigen wird.

eines der grundkonzepte von beratung besteht in der vorstellung, empathie herzustellen. empathie (einfühlsamkeit, feingefühl) ist ein recht schwammiges theoretisches konstrukt. wenn man davon ausgeht, dass jeder mensch anders tickt, dann bedeutet einfühlsamkeit, ihn erst einmal in seinem anliegen ernst zu nehmen. dazu gehört, dass ich als berater, die ängste und probleme meines gegenübers nicht relativiere, sondern davon ausgehe, dass diese situation sich für diese person so anfühlt. ich bin mir als berater bewusst, dass ich die gefühlslage nie hundertprozentig nachvollziehen kann, ist sie doch subjektiv. ich kann mich ihr nur annähern.

da mag mir die beschriebene situation noch so absurd erscheinen, da mag ich noch so wenig nachvollziehen können, erst einmal leiste ich als berater einen vertrauensvorschuss den klientInnen gegenüber. ich glaube ihren aussagen. und an den punkten, an denen zweifel aufkommen, kann ich nachfragen. das ist sehr grob beschrieben, empathie.

leider geistern in beratungstheorien und -analysen vorstellungen von „schwierigen“ oder „widerständigen“ klientInnen durch das geschriebene. eine wenig hilfreiche vorstellung, da sie zur folge hat, dass die personalisierung von schwierigkeiten den blick für lösungsmöglichkeiten verstellen kann. natürlich kann es in einer beratung, auch in einer schreibberatung, passieren, dass ratsuchende den beraterInnen misstrauen. dass sie nicht alles offenlegen, hinzu erfinden und weglassen. doch es ist nicht aufgabe von beraterInnen, dies ständige zu vermuten und zu entlarven.

klientInnen stellen meist nach einer gewissen zeit fest, dass es nicht sehr hilfreich für sie ist, wenn lösungsmöglichkeiten an falschen tatsachen gemeinsam ausgearbeitet werden, da sie dann teilweise nicht greifen. doch auch dies ist ein entwicklungsprozess. ebenso wie für etliche klientInnen es vielleicht das erste mal in ihrem leben ist, zu erleben, dass ihnen jemand vertraut, sie ernst nimmt, also empathie entwickelt. Weiterlesen